Die Grenzgänger

Wo bist du denn gewesen

„Wo bist du denn gewesen
Meine Tochter Marjä?“
„Bei meiner Stiefgothe
o Mama wie weh“

„Was hast du denn gegessen
Meine Tochter Marjä?“
„Ein kleines Stockfischlein
o Mama wie weh“

„In was hat sie ihn denn gebacken
Meine Tochter Marjä?“
„In einer rustig Pännchen
o Mama wie weh“

„Mit was hast du´s gegessen
Meine Tochter Marjä“?
„Mit einer rustig Gäbelein
o Mama wie weh“

„Wer hat denn mit dir gegessen
Meine Tochter Marjä“?
„Mein Goth ihr schwarz Kätzchen
o Mama wie weh“

„Wo hat sie ihn gefangen
Meine Tochter Marjä“?
„In einer dicken Hecke
o Mama wie weh“

„Mit was hat sie ihn gefangen
Meine Tochter Marjä“?
„Mit einer langen Stange
o Mama wie weh“

„Was wünscht du deiner Gothe
Meine Tochter Marjä“?
„Einen Stuhl in der Hölle
o Mama wie weh“

„Was wünscht du deiner Mama
Meine Tochter Marjä“?
„Einen Stuhl in dem Himmel
o Mama wie weh“

“Über „Wo bist du hingewesen” haben wir lange diskutiert. Es ist in der Tat von einer anrührenden Intensität und transportiert eine geheimnisvolle Melancholie. „Tief und rätselhaft'”, der alte Goethe hat mal wieder das rechte Wort gefunden. „Stangen” reimt sich auf das abwesende Wort „Schlangen”, viel Volksglaube und Alltagsmythos spielt hinein: Die Schlange ist giftig, folglich ist auch ihr Fleisch giftig und führt zum Tode, die Stieftante (diesmal nicht Stiefmutter) als Giftmischerin mit den Attributen einer Hexe… (Man sollte zu den Zusammenhängen mal kritische Volkskundler befragen, z. B. an der Uni Tübingen.) Ein Nebengedanke: Wenn die (wohl viel leichtere, eher spöttische) angelsächsische Version „Where have you been Henry my son”, die wir nicht kennen, in den USA sehr verbreitet ist, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass sie Bob Dylan – gewollt oder vielleicht auch vorbewusst – als Folie für sein „A hard rain’s a-gonna fall” diente, denn dieser Song beginnt ja exakt mit den Worten -Oh, where have you been, my blue-eyed son” und folgt ebenfalls dem Schema des Frage-Antwort-Dialogs, um darin all diese kleinen, mittleren und größeren Schreckensbilder zu skizzieren, die den ganz großen Schrecken, der alledem zu Grunde liegt, ungenannt und unsichtbar im Hintergrund belassen.”
(Brief von Wilfried Korngiebel, 17.11.2012)