Kann man Karl Marx noch neue Seiten (bzw. Saiten) abgewinnen? Man kann. Das Bremer Folk-Quartett „Die Grenzgänger“ hat sich durch die Hunderte von Gedichten gewühlt, die der 18-jährige angehende Philosoph und Journalist seiner angebeteten Jenny von Westphalen widmete, teilweise auch dem Herrn Vater zum runden Geburtstag. Ein Dutzend davon haben „Die Grenzgänger“ – die es schon seit 30 Jahren gibt – auf inspirierte und erfrischende Weise vertont und präsentieren sie unter dem Titel „Die wilden Lieder des jungen Marx“ auf CD.
Der Titel ist kein reißerischer Trick, denn erstens publizierte Marx zwei seiner Texte selbst unter dem Titel „Wilde Lieder“ – es war seine erste Veröffentlichung überhaupt –, und zweitens kommen die Gedichte in der Tat mit viel wilder Leidenschaft, mit umstürzlerischer Lust und Verachtung gegen die Spießer und Frömmler daher. Der junge Studiosus, merklich angeregt von Heine und Goethe, feuert voller Bangen und Verlangen seine „Glutgesänge“ auf die Geliebte ab – mit einem bluesig schmachtenden „O Jenny Jenny, o Jenny“ geht die CD los.
Er spottet übers „deutsche Publikum“, das im behaglichen Sessel die Zeichen der Zeit verschläft, entwirft im Lied der Gnomen eine Allegorie auf die verborgenen Wirkkräfte der Gesellschaft in ihrem Aufstieg und Niedergang.
Er singt eine stolze Hymne (Empfindungen) auf das ungeteilte, ungezähmte Leben voller Liebe und Hass, Wagemut und Wissensdurst, Lust und Leiden. Dem Jenseits im christlichen Himmel erteilt er eine Absage, er mag nicht ewig Hallelujah singen und lässt sich vom Ordnungshüter Gabriel gern rausschmeißen.
Dank abwechslungreicher Vertonungen (Gitarren, Cello, Akkordeon u. a.) und Michael Zachcials überzeugendem Gesang entstehen erstaunlich moderne Songs. Und wo der eine oder andere Vers sich nicht auf Anhieb heutigem Verständnis erschließt, hilft das genaue Mit- und Nachlesen im hübschen Booklet. Zum Ausklang der CD zelebrieren die Bremer Stadt-, Land- und Weltmusikanten ein verschmitztes Instrumental-Medley
aus „Wann wir schreiten“, der „Internationalen“ und „Happy Birthday To You“ – und zwar ganz im Dreivierteltakt. Eine preisverdächtige Produktion.
olaf cless , FiftyFifty, Juli 2018